Donnerstag, 9. Juli 2015

[ #tagebuch ] Völkischer Grexit

"Etwas vom Erhellendsten, das ich zur Griechenland in letzter Zeit gelesen habe" schreibt der Vorarlberger Grünen-Politiker Johannes Rauch über einen feuilletonistischen Betrag der FAZ (Gut genährt dank Rousfetia) zur aktuellen Griechenland-Debatte auf Facebook. 

Die Sache einmal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, mag unterhaltsam sein. Der Beitrag selber wäre aber wohl keiner weiteren Erwähnung darüberhinaus wert gewesen, wenn nicht auch noch der Vorarlberger NEOS-Politiker Matthias Strolz den Beitrag auf Facebook buchstäblich beworben hätte. Was bei Rauch noch bescheiden etwa so klang als hätte er eben etwas Neues aus einem fernen Erdteil dazugelernt und wolle andere an diesem Aha-Erlebnis teilhaben lassen, klang bei Strolz wie eine Bestätigung seines Programmes für einen Grexit und dass man es eh schon immer gewusst hatte (Spannender geschichtlicher Einblick - wie es zum Griechenland-Desaster kam). Fast gleichzeitig hat er ja auch seinen neoliberalen Polterer Guy Verhofstadt gegen Tsirpas von der Liberalen Fraktion im Europäischen Parlament dort wie ein braver Parteisoldat vermarktet.


Der Beitrag ist eine nette Facette und durchaus geeignet, Wissenslücken über die griechische Geschichte zu ergänzen. Nicht zu füllen. Der Verfasser sieht das Übel des griechischen "Klientelsystems" im Osmanischen Reich. Freilich lässt er all die nachfolgenden nichtmuslimischen Akteure nicht aus, aber die "Ursachen" sind einmal im Asiatischen und Nichtchristlichen festgemacht. Und dann zieht sich sein Argumentationsstrang wie ein roter Faden bis in die neueste Zeit und vermittelt ein Bild von Griechenland, in dem es weder Fernsehen, noch internationalenTourismus und Austausch, Globalisierung, Wissenschaft oder gar Internet gibt, in dem die Zeit stehen geblieben ist wie seinerzeit in Enver Hodschas Albanien.

Es ist ja unbestritten, das die Politik VOR Syriza für uns Nichtgriechen (auch der Linken die kaum mehr über Griechenland kennen als den Sirtaki, der in der bekannten Form auch nur eine konstruierte Tradition ist) häufig etwas Antiquiertes hatte. Es ist uns auch so fern, weil es längst vor dem Osmanischen Reich von uns in Mitteleuropa abgekoppelt war, durch die orthodoxe Religion, die kyrillischen Schriftzeichen und einen durch humanistische Tradition und Gymnasien vermittelten künstlichen Philhellinismus, durch die damit überhöhte griechische Antikgeschichte und der Behauptung, Demokratie sei in Griechenland entstanden. Wobei wir die griechischen Philosophen ja ohnedies erst über den Umweg maurischer Moscheebibliotheken in Europa entdeckt hatten.
Aber selbst wenn es so wäre, wie der Autor es darstellt, dann wären Syriza und die Volksabstimmung ja geradezu ein Modernisierungsprojekt, zumindest ein weiter verfolgbarer Versuch.
Der Autor, über den die FAZ merkwürdig kurz informiert, ist sicherlich ein anerkannter und gescheiter Historiker zur griechischen Zeitgeschichte, auch wenn ihm im Augenblick ein recht merkwürdiger und unwürdiger Prozess als Holocaustleugner in Griechenland droht. Als linksliberal, wie es die TAZ tut, kann man ihn denn doch nur schwer verstehen. Wer behauptet, die Textilindustrie Griechenlands sei durch zu hohe Lohnforderungen der Gewerkschaften vertrieben worden, hat sich auch von seinem Forschungsgegenstand entfernt (Auch in Vorarlberg ist die einst führende Textilindustrie nicht von den Gewerkschaften vertrieben worden). Und die verkorkste Behauptung, der 17-jährige Bayer, der als Klientel der Londoner Konferenz 1830 zum griechischen König kostümiert wurde, habe zu wenig bayrische Beamte mitgebracht, welche sein neues Schloss auf der Akropolis bauen wollten und die griechische Fahne gleich in bayrisch-blau färbten, belustigt nur. Diesem Abenteuer verdanken allerdings die Bayern, dass ihr Baiern mit einem Ypsillon aufgefrischt wurde.

Geschichtsfetzen. Wenig belustigend ist allerdings, die Griechen und griechische Gegenwartsprobleme nur auf das einseitige Verständnis solcher Geschichtsfetzen zu relativieren, denn dann wäre im Umkehrschluss die deutsche und österreichische Politik nur die konsequente Fortsetzung treuer obrigkeitshöriger Faschisten, die britische nur als Fortsetzung des Kolonialsystems, die osterweiterte EU nur als das historische Ergebnis von loyalen Politkommissaren erklärbar. Bei manchen griechischen Politikern erscheint Europa in der antieuropäischen Propaganda leider manchmal auch so. Und gerade deshalb sollten wir nicht auf solche einfache völkische Bilder reinfallen.

Europas Misswirtschaft. Und noch etwas wird damit vorsätzlich nicht geleistet oder gar verdunkelt: Die Fehler Europas und die Misswirtschaft der Troika gegenüber dem griechischen Volk. Schließlich sind Modernisierung und Demokratisierung nicht nur in Griechenland angesagt. Es muffelt auch anderswo.

Tagebucheintrag: Heinz Starchl  9. Juli 2015